Als Jonathan, ein intelligentes Kerlchen mit schwarzen Knopfaugen und einem langen Schwanz geboren wurde, wohnte seine Familie zur Untermiete in einem feinen Restaurant in Paris. Das Restaurant hieß ›Madame la Lune‹ und die Gäste, die hier verkehrten, waren sehr berühmt und jeder kannte sie. Jonathans Mutter hatte ein kuscheliges Nest für ihn und seine sechs Geschwister direkt unter der Restaurantküche errichtet.
Das Nest bestand aus zerfetzten Illustrierten und Plastiktüten und als Jonathan wenige Tage nach seiner Geburt erstmals die Augen aufschlug, blickte er durch die Ritzen im Holzboden auf die behaarten Beine des Kochs, der am Herd stand und in einer Trüffelsuppe rührte. Der Koch war ein nervöser Mensch und fluchte ständig vor sich hin, und manchmal passierte es, dass ihm ein Topf voller Suppe aus der Hand glitt und zu Boden fiel. Dann tropfte die leckere Suppe durch die Bodenritzen, und Jonathan und seine Geschwister brauchten nur noch ihre kleinen Schnauzen aufzumachen, um sie aufzufangen. Dass Jonathan anders war als seine Geschwister, hatte seine Mutter bereits kurz nach seiner Geburt gemerkt.
Während sich seine Geschwister im warmen Nest unter der Restaurantküche aneinander kuschelten, kroch er im Ganglabyrinth hinter den Wänden im Speisesaal herum, beobachtete die Menschen durch kleine Ritzen, die er diskret im alten Mauerwerk gegraben hatte, und lauschte ihren Worten, denn das Besondere an ihm war, dass er ihre Sprache verstand.
Doch eines Tages war das gute Leben vorbei. Das Restaurant wurde wegen Unsauberkeit geschlossen und ein Kammerjäger geholt.
Jonathan stellte sich vor seiner Familie, die sich unter dem morschen Holzboden versammelt hatte, auf die Hinterbeine. Er hob seine Vorderpfoten in die Höhe wie ein Boxer vor dem Kampf. Seine kleinen Augen flitzten nervös hin und her, seine Schnurrbarthaare zitterten und er knirschte so laut mit den Zähnen, dass die anderen Ratten erschreckt zusammenzuckten. Aber alle verstanden, was Jonathan von ihnen forderte: Sie befanden sich in größter Gefahr und mussten sofort das ›Madame la Lune‹ verlassen, ein Ort, an dem sie sich wirklich heimisch gefühlt hatten und wo es zum Glück auch keine Katze gab. Die Menschen gönnten ihnen wirklich nichts!
Nacheinander krochen sie durch ein zerbrochenes Kellerfenster nach draußen. Sie fassten sich bei den Schwänzen und überquerten in einer langen Kette die nächtliche Straße. Eine alte Frau kam aus einer Haustür und wollte sich ein bisschen die Füße vertreten. Als sie die Ratten im Mondlicht sah, bekreuzigte sie sich und verschwand schnell wieder in ihrem Haus. Drinnen schob sie die Gardine vor dem Fenster vorsichtig beiseite und riskierte einen ängstlichen Blick nach draußen. Aber die Ratten waren bereits in einem Kanalloch verschwunden.
Nach vielen Abenteuern fand Jonathan einen Unterschlupf in einem alten Schloss. Dort wohnten außer ihm nur noch der Colonel, dem das Anwesen gehörte, und Madame Lasalle, die dem Colonel den Haushalt führte. Beide waren schon sehr alt und in ihrem Wesen so verschieden, wie man sich das kaum vorstellen kann. Der Colonel erschien jeden Morgen in seiner Paradeuniform zum Frühstück und daran glitzerten goldene Knöpfe und Epauletten neben den Medaillen, die man ihm im Krieg verliehen hatte, wie Christbaumschmuck. Madame Lasalle war klein und spindeldürr und wirkte in ihrem schlichten Kleid wie eine graue Maus.
Der Colonel liebte es, Befehle und Anweisungen zu erteilen, und alle hatten ihm in früheren Jahren gehorcht: seine Soldaten, Madame Lasalle, seine Frau und sein Sohn. Seine Frau war inzwischen gestorben und sein Sohn hatte ihn verlassen, als er erwachsen war. Nur Madame Lasalle war bei ihm geblieben.
Dass Jonathan die menschliche Sprache verstand, war eigentlich nicht zu erklären, denn er war eine Ratte. Es war ihm auch nicht möglich, mit seiner Familie darüber zu reden, weil es in der Rattensprache dafür überhaupt keine Worte gab. Und so war Jonathan mit seiner Fähigkeit, die ihm von Natur aus zugefallen war, sehr allein.
Je länger er die Gespräche der Menschen belauschte, umso deutlicher wurde ihm, dass es doch völlig andere Wesen als er und seine Familie waren.
Im Grunde genommen taten die Menschen Jonathan leid. Menschen machten sich mit ihren vielen Einfällen nur selbst das Leben schwer. Sie waren eitel und jeder von ihnen versuchte sich über den anderen zu erheben, obwohl sie das natürlich nie zugaben. Ganz im Gegenteil. Sie gaben sich liebenswürdig und wenn jemand größere Erfolge hatte als sie, gratulierten sie ihm, obwohl sie in ihrem Kopf hässliche Hintergedanken hatten. Und sie gefielen sich sogar noch in dieser Rolle, weil sie glaubten, dass es andere nicht bemerkten. Doch Jonathan hatte ein feines Gespür für solche menschlichen Schwächen.
Die Ratte Jonathan wundert sich über das Verhalten der Menschen und ihre Schwächen: Ihre Neigung zu Eitelkeit und Selbstüberschätzung, ihr unersättliches Verlangen nach Glück, das sie in äußeren Dingen suchen, in denen es doch nicht zu finden ist.
Der Colonel lebt einsam und zurückgezogen und ist völlig frei von Empathie. Er ist geprägt von seinem Leben beim Militär, verehrt Napoleon und liebt Bücher und Marschmusik. Als der alte Mann im Keller Rattengift verstreut, stirbt eine Ratte und Jonathan wagt sich zum Colonel ins Wohnzimmer. Die beiden nehmen Gespräche auf und es ist wirklich schön zu lesen, wie sie sich annähern. Ein guter Austausch! Allerdings stellt sich die Frage: Wer von beiden ist eigentlich die Ratte?
Eindeutige Empfehlung auch für die wunderschönen Illustrationen.
Anna Ulrich
Jonathan
Die Ratte muss weg!
Wolf Richard Günzel / Marie-Anne Delasalle-Günzel
Auflage: 1. Auflage
Seiten: 103
Verlag: Reichel Verlag
Erschienen: 29.04.2015
Format: 21,0 x 14,5 cm
Gewicht: 220 g
ASIN: 3945574536
GTIN: 9783945574539
ISBN-10: 3-945574-53-6
ISBN-13: 978-3-945574-53-9
Hier geht’s direkt zum Buch: https://www.reichel-verlag.de/978-3-945574-53-9.shtml