(Ungekürzte Fassung)
Von Anne Devillard
Daniel Odier ist tantrischer Meister der kaschmirischen Pratyabhijna-Schule der Kaula-Tradition. Er lehrt im Augenblick zu leben und den Körper, die Empfindungen und Gefühle von jeglichen Glaubensmustern und erstarrten Formen zu lösen – bis zum Auftauchen einer spontanen Freude, die unabhängig von äußeren Umständen ist.
Tantra (abgeleitet von „tan“: Weite, Ausdehnung, Ganzheit) hat mit den sexuellen Praktiken, die man in den westlichen Schulen findet, nur wenig zu tun, es ist vielmehr ein Jahrtausende alter Weg der Rückkehr zu unserem ursprünglichen Wesen, das die Vollkommenheit in sich trägt. Die tantrische Lehre beruht auf der Idee, dass dem inneren Kern nichts hinzugefügt oder genommen werden kann. Die Suche nach diesem vollkommenen Kern führt uns nicht in die Abgeschiedenheit, sondern mitten ins Leben, indem wir in die Realität eintauchen und mit der Welt der Materie, die uns umgibt, kommunizieren. Der Tantriker findet Erfüllung, indem er mit all seinen Sinnen das Leben umarmt und durchdringt.
Anne Devillard sprach mit Daniel Odier im Rahmen eines Seminars, das er in Paris hielt.
Sie haben einen sehr besonderen Weg hinter sich: Schüler des tibetischen Meisters Kalu Rinpoche, dann Ihre Einweihung von der shivaitisch-kaschmirischen Yogini Lalita Devi, schließlich wurden Sie im Jahr 2004 von einem der größten chinesischen Meister, Jin Hui Sifu, Chan-Meister ernannt. Wir können uns wirklich fragen, die wir diese ganzen Erfahrungen nicht gemacht haben, wie wir in diesem Leben die Erleuchtung erlangen können!
Jeder geht einen unterschiedlichen Weg. Das Wichtigste ist, eine Praxis zu wählen und dieser in der Tiefe zu folgen. Die meisten Menschen tun das nicht, sie „sammeln“ die Schulen, was aber eine sehr dilettantische Haltung ist. Ich denke, dass man in einen Zustand der Öffnung gelangt, wenn man in den tiefen Austausch mit einem Meister kommt und seiner Lehre dann auch wirklich folgt.
Das Wichtigste ist, die richtige Person zu finden, die einen nicht in die Abhängigkeit führt!
Es ist der Weg des Kämpfers! Aber jeder findet den Weg, der ihm entspricht. Was mich betrifft, bin ich in den 1967-, 1968-er Jahren nach Indien gekommen, zu einer Zeit, als es noch keine Westler gab, die zu Meistern gingen. Ich war also einer der Ersten. Es war damals möglich, großen Meistern zu begegnen, man hatte einen leichten Zugang zu ihnen. Sie waren sogar sehr neugierig und interessiert, junge Westler zu sehen. Aber es war nicht leicht zu bleiben, denn sie waren sehr anspruchvolle Persönlichkeiten, die dich sehr schnell weggeschickten, wenn sie merkten, dass du nicht ernsthaft bei der Sache warst. Alle diese großen Meister getroffen zu haben, hat es mir ermöglicht zu erkennen, was einen wahren Meister ausmacht. Nach dieser Erfahrung, wenn man die vielen Menschen betrachtet hat, die lehren, ist es einem klar, dass es überhaupt nicht das Gleiche ist. Es gibt eine Art Kosmos zwischen beiden. Das Einzige, was man schließlich von einem Meister verlangen kann, ist zu sein, was er lehrt.
Der Alltag als Praxisfeld
Im Gegensatz zu den meisten spirituellen Traditionen, die die Abgeschiedenheit und den Rückzug aus der Welt fördern, befindet sich der Kern der tantrischen Lehre im Alltagsleben.
Das tantrische Yoga ist eine einfache Lehre, in der der Mensch die alltägliche Realität als Praxisfeld wählt, ohne auf irgendetwas zu verzichten – indem er die Welt vollständig umarmt. Auf diesem Yoga-Weg geht es also darum, in tiefen Kontakt mit seinen Emotionen, seinen Gedanken, seinen körperlichen Empfindungen zu treten. Dem Körper wird dabei ein wunderbarer Platz eingeräumt, er wird überhaupt nicht negiert. Nie. Im Gegenteil finden wir, dass er ein fabelhaftes Instrument ist, aus einem einfachen Grund, nämlich weil er die natürliche Fähigkeit besitzt, Eins zu werden mit allem, was ihm begegnet – mit einer unglaublichen Anmut und Spontaneität. Für ihn ist dies seine normale Reaktionsweise. Sie wird aber von unserem Verstand gestört, der dazu neigt, zu zerlegen, zu beurteilen, Unterschiede herzustellen. Unser Verstand nimmt 90 % des Raumes ein, unser Körper kaum 10 %! Es geht überhaupt nicht darum, den Verstand auszuschalten, denn er ist unentbehrlich, sondern es wird versucht, ein ausgeglicheneres Verhältnis herzustellen, damit der Körper seinen eigentlichen Platz einnehmen kann. Es ist, als würden wir eine wunderschöne Wohnung besitzen und nur in der Küche leben, die den Kopf darstellen würde, und der Rest der Wohnung wäre unbesetzt! Ja, so machen wir es: Wir wagen es nicht, unseren Körper vollständig in Besitz zu nehmen, weil ihm eine Art uraltes Gewaltpotenzial innewohnt und er starken inneren Regungen, die ziemlich unkontrollierbar sind, ausgesetzt ist. Um also zu vermeiden, diesen gewaltigen Strömungen ausgeliefert zu werden, haben viele Menschen entschieden, den Körper zu verneinen und lieber eine Art reiner Geist zu sein. Aber das funktioniert auf längere Sicht nicht sehr gut.
Es kann einem gelingen, sich einzubilden, er sei von seinem Körper völlig losgelöst, aber eines Tages überrascht ihn eine große Welle, die ihn wieder mitnimmt. Es gibt bekannte Fälle von Meistern, die 40, 50 Jahre lang ein äußerst tugendhaftes Leben geführt haben, und die dann plötzlich ins Gegenteil verfallen sind. Dem Körper seinen gebührenden Platz wieder zu geben, die Sensibilität des Körpers zu achten, ist für uns Tantriker etwas Wesentliches.
Und seinen Körper wieder in Besitz zu nehmen, geht durch die Sinneswahrnehmung…
Wir haben gewissermaßen eine organische Vorstellung des spirituellen Erwachens. Es ist, als gäbe es einen natürlichen Impuls der Erleuchtung im Körper. Wenn man ihn in diese Richtung gehen lässt, führt er uns von selbst dahin. Es ist also überhaupt keine Sache des Verstandes, sondern wirklich ein organischer Prozess. Es ist wie eine Zelle, die explodiert und auf einmal die Gesamtheit des Kosmos erfasst. Der kosmische Körper ist der Hauptgegenstand der tantrischen Poesie. Er kann die Gesamtheit des Kosmos enthalten bzw. mit der Gesamtheit des Kosmos verbunden sein. Derjenige, der den tantrischen Weg geht, ermöglicht all seinen Sinnesorganen, in andauerndem Erschauern bzw. innerer Vibration (spanda) zu sein. Es handelt sich um eine entspannte und gleichzeitig ununterbrochene Gegenwärtigkeit in der Realität. Je mehr der Körper in der Aufmerksamkeit ist, desto mehr führt das zu einer tiefen Lebensfreude und zu einer natürlichen Spontaneität. Je abwesender er ist, desto mehr ist er auf der Suche nach intensiven Vergnügungen, um sich von der Spannung zu befreien, in der er sich befindet.
Unsere Yoga-Form lehrt uns, in das Leben hineinzutauchen und die einfachen Freuden des Alltags zu genießen, wie uns z. B. beim Aufwachen unserer Haut bewusst zu sein, beim Duschen ein großes Wohlgefühl zu empfinden, das durch die Wassertropfen auf der Haut ausgelöst wird, uns überhaupt aller Automatismen bewusst zu werden. Um zu dieser tiefen Präsenz zu gelangen, ist es unerlässlich, dass unser Körper, dieses wunderbare Instrument, perfekt gestimmt wird. Und hier kommen die Sinneswahrnehmungen ins Spiel. Die erste Etappe ist also, all diese Funktionen wieder herzustellen, unseren Geschmack am Leben wieder zu finden, sich dem Leben vollkommen hinzugeben, mit all unseren Sinnen, unseren Gefühlen und unserer Leidenschaft.
Das Begehren ist die Bewegung des Universums
Es ist ungewöhnlich, dass in einer mystischen Schule das Begehren als eine unserer größten Kräfte anerkannt wird!
Für die shivaitisch-kaschmirischen Meister ist es unmöglich, einem spirituellen Weg zu folgen, der das Begehren ablehnt. Denn die geringste Regung in uns resultiert aus dem Begehren: Die spirituelle Suche selbst hat ihren Ausgangspunkt im Begehren, der Wunsch, sich vom Begehren zu befreien, ist selbst ein Begehren. Für sie ist das Begehren die Bewegung des Universums selbst. Es ist der Kern dessen, was uns Lebensgefühl und -Intensität vermittelt. Die Meister haben das Begehren nicht abgeschafft, sondern haben es in seiner absoluten Form betrachtet, d. h. es von seinem Objekt unabhängig gemacht. Denn, wird die Aufmerksamkeit auf Objekte gerichtet, führt uns das bekanntlich dazu, immer mehr zu wünschen, weil man ständig unzufrieden ist. Derjenige, der den tantrischen Weg geht, findet eine tiefe Befriedigung in der Welt zu sein. Er betrachtet die Welt als Begierde. Jedes Ding, das er anschaut bzw. tut, begehrt ihn: Der Baum, den er betrachtet, begehrt ihn, das Wasser, das er trinkt, begehrt ihn, die Nahrung, die er zu sich nimmt, begehrt ihn. Dies ändert vollkommen den Kontakt mit der Realität. Die Lust, im Leben vollkommen präsent zu sein, macht aus der banalsten Sache die wunderbarste, wie das Trinken einer Tasse Tee, der Geschmack des Toastes am Morgen, ein Fenster, das sich zum Himmel öffnet. Diese Yoga-Form ist sehr einfach und gleichzeitig schwierig, denn sie hat mit der Erfahrung des Alltäglichen zu tun.
Die Sehnsucht nach der Einheit
Während das Begehren als Motor im Zentrum der tantrischen Philosophie liegt, ist es laut anderen spirituellen Schulen eher die Sehnsucht nach der Einheit, die unsere Suche lenkt.
Es gibt im Tantra natürlich auch diese große Sehnsucht nach der Einheit, die uns veranlasst zu suchen. Es ist umso mehr eine Sehnsucht, als die Erfahrung der Einheit ein persönliches Erleben ist. Denn es ist nicht etwas, das man lernt, sondern man hat es als Neugeborener bereits erfahren. Wir haben alle schon dieses Gefühl erlebt, vollkommen mit der Welt verbunden zu sein, vor allem in der Kindheit oder Jugend. Wir wissen, was dieses Gefühl der Einheit ist, wie sie sich anfühlt. Wir haben bereits erfahren, wie wir beim Betrachten eines Blattes, das vom Baum fällt, oder eines Salamanders auf einer Mauer vollkommen verschmelzen können. Das entspricht der grundlegenden Vorstellung, dass wir in uns all das haben, was wir im Außen suchen. Es ist ein wichtiger Augenblick, wenn wir auf einmal aufhören, nach außen zu projizieren, im Außen zu suchen. Es gibt dann eine Hinwendung zurück zum Zentrum, und plötzlich wird einem bewusst, dass es schon immer diesen klaren, weiten Geist gab. Es ist wie ein Schock zu merken, wie viel Energie wir verausgabt haben, um etwas zu erreichen, das schon immer da war. Völlig absurd erscheinen uns dann die unglaublichen – körperlichen und geistigen – Reisen, die wir unternommen haben, um schließlich zu erkennen, dass wir bereits das sind, was wir suchen – dieser Diamant des Herzens, wie die Tantriker es nennen, dieser wunderschöne Diamant im Zentrum unserer selbst – der aber von einer dichten Masse umgeben ist, die sich allmählich gebildet hat.
Die Mikro-Praktiken: einfach und wirksam
Wie kann man diesem Diamanten allmählich seinen ursprünglichen Glanz wieder geben?
Durch Übung, durch das, was wir die Mikro-Praktiken nennen. Was mich bei den tantrischen Meistern schon immer sehr angesprochen hat, ist, dass sie nie für bare Münze genommen haben, was die anderen sagen. Sie sind Beobachter des Funktionierens des Menschen und keine Idealisten. Sie haben sich gefragt: „Wie funktionieren die Emotionen? Wie funktionieren die Sinnesorgane? Wie funktioniert die Begierde? Dies hat sie davon abgehalten, in die Falle zu geraten, in die viele Menschen fallen, denn es gab immer einen wissenschaftlichen Aspekt an jeder Beobachtung, indem sie sagten: „Ja gut, aber wir werden es erforschen.“ Es ist, als würden sie den Menschen im Mikroskop beobachten. Dies hat es ihnen ermöglicht, interessante Lösungen zu finden, auch auf der Praxisebene. In der Regel wird behauptet, man sollte jeden Tag von dieser bis zu jener Zeit meditieren. Die Tantriker dagegen haben den Geist beobachtet. Sie haben sich gesagt: „Der Geist ist sehr beweglich, er mag nicht zu etwas gezwungen werden, das zu lange dauert. Wenn man ihn zu lange zu etwas zwingt, entkommt er durch Träumereien und Ablenkungen usw.“ So haben sie den Schluss gezogen: „Wenn man eine Stunde meditiert und davon jedesmal 50 Minuten voller Gedanken ist, weil unser Geist sich entflammt, nur weil man ihn zur Unbeweglichkeit gezwungen hat, muss man etwas anderes finden.“ So sind sie zu der genialen Idee gekommen: „Wenn der Geist es liebt, sich schnell zu bewegen, werden wir eine Praxis erfinden, die schnell geht und die so leicht ist, dass der Geist keine Zeit hat, zu rebellieren.“ So entstand die Idee der Mikro-Praktiken: Man praktiziert intensiv 10, 15, 20 Sekunden und lässt dann los, um zu dem zurückzukehren, was ich automatische Steuerung nenne, d. h. zu unserer gewöhnlichen Art, die Dinge zu tun. Es ist, als würde man schneller als der Geist sein: 15 Sekunden in der Konzentration zu sein, stört ihn nicht. Aber wenn man versucht, 10 Minuten darin zu bleiben, geht er sofort in den Widerstand.
Es reicht aus, mit den Dingen anzufangen, die uns vertraut sind, am Morgen z. B. mit einem Schluck Tee oder Kaffee, dem Genuss des Toastes, ein paar Schritten auf der Straße, der Freude an einer friedlichen Atmung. Wenn wir in dieser Präsenz sind, sei es nur einige Sekunden pro Tag, wird sie sich mit jedem Augenblick ausdehnen und unser Leben wird sich verwandeln.
Die Idee der Mikro-Praktiken ist wirklich sehr schlau, weil es darum geht, in die Wachsamkeit zu gehen und sie sofort wieder zu verlassen. Während man eigentlich denkt, man müsste so lange wie möglich in der Übung bleiben, was erneut eine Anspannung schaffen würde. Im Tantra wird nun gesagt: „Nein! Im Gegenteil, du gehst raus!“
In der tantrischen Tradition hat das Spielerische einen großen Platz. Man spielt mit den Dingen, d. h. schnell zu sein, wenn es schnell geht, langsam zu sein, wenn es langsam geht. Man versucht nicht, die Dinge zu verbiegen, wie sie nach unserer Vorstellung zu sein haben. Es gibt keine festen Vorstellungen, also ist man gezwungen, mit dem zu kommunizieren, was da ist.
Wenn man beispielsweise Tandava, diesen bestimmten Tanz von Shiva, tanzt, gibt es keine bestimmte Vorstellung. So wirst du gezwungen zu fühlen. Du näherst dich jemandem und nimmst wahr, was passiert. Aus diesem Grund kann ich der einen Person kräftige Schläge auf das Brustbein verpassen, weil ich instinktiv weiß, dass es sie atmen lässt. Eine andere Person wiederum werde ich in etwas Langsames und Sanftes einhüllen, um zu veranlassen, dass sie loslässt. Es ist also nicht das Gleiche für alle. Die Mikro-Praktiken bedeuten: Kreativität in reinem Zustand, in einer begrenzten Zeit, aber oft praktiziert.
Werden die Mikro-Praktiken also öfter wiederholt?
Eigentlich ist die Idee der Mikro-Praktiken, dass unser Körper die Selbstverständlichkeit wieder findet, dass die Präsenz uns mehr Freude macht als der Automatismus. So einfach ist es. Wenn wir also unser System 10 oder 15 Sekunden lang etwas Wunderbares fühlen lassen , es dann in Ruhe lassen und es wieder schmecken lassen, dann kommt der Augenblick, wo unser System immer wieder Lust verspürt, daran zu schmecken. Unser System meldet sich von alleine. Das ist das Gute an den Mikro-Praktiken: Man praktiziert sie 2 oder 3 Monate, und plötzlich kommt das Leben und holt uns und sagt: „Bleib mit mir noch 20 Sekunden!“ Man fühlt den Ruf der Dinge, man geht hin, bleibt drin und lässt wieder los. Es ist eine äußerst wirksame Praxis. Ich habe sie nirgendwo sonst gesehen. Sie ist für den kaschmirischen Tantrismus absolut spezifisch.
Und wenn man die Perspektive wechselt, wie Sie es vorher erklärt haben, d. h. es ist die Tasse Tee, die uns begehrt, und nicht umgekehrt, sind wir sofort im gegenwärtigen Moment. Dies hilft einem, besser wahrzunehmen und zu genießen.
Das verändert unsere Gestik. Der Ausbeuter in uns verschwindet sofort. Wenn wir die Menschen betrachten und die Art und Weise, in der sie mit den Objekten umgehen, stellen wir eine enorme Gewalt im alltäglichen Leben fest. Die meisten Menschen sind sich dessen nicht bewusst. Mit der Mikro-Praktik wird diese Gewalttätigkeit im Alltag geringer. Man fängt an, die Dinge zu genießen. Dann, wenn man etwas in der Tiefe genossen hat, möchte man es nach 10 Minuten wieder erleben. Es ist, als würde man dich einen Teelöffel von etwas Wunderbarem schmecken lassen. Nach einer Weile möchtest du nochmals eine kleine Dosis dieser wunderbaren Sache probieren. Am Anfang reichen 3 oder 4 Minuten Präsenz pro Tag. Es geht nicht darum, die Dauer der Praktiken zu erhöhen, sondern deren Anzahl. Nach einigen Wochen oder Monaten entdeckt man dann, dass es keine „Praxis“ mehr gibt, sondern einfach ein unvergleichbares Lebensgefühl.
Man hat dann wirklichen Geschmack am Leben bekommen!
Absolut! Und je mehr Freude wir in der einfachen Realität finden, wie sie sich uns von Sekunde zu Sekunde präsentiert, desto weniger hängt unsere Lebensfreude von außergewöhnlichen Umständen ab. Das macht uns unglaublich frei von den Erwartungen, die wir ans Leben stellen. Und diese Freude am Augenblick kann uns niemand mehr nehmen. Das ist das Geheimnis: In die tiefe Kommunikation mit der Realität unseres Lebens, so wie es ist, zu kommen. Und wir merken, dass es uns jedes Mal gelingt, das Leben in seiner Unmittelbarkeit zu ergreifen, und dass sich unsere Atmung auf eine harmonische Art und Weise entspannt.
Die wesentliche Rolle der Atmung
Die Atmung spielt im tantrischen Yoga wie auch in anderen Yoga-Schulen eine vordergründige Rolle. Gibt es bei Ihnen eine spezielle Technik?
Die wesentliche Rolle der Atmung ist der einzige Punkt, mit dem alle spirituellen Schulen einverstanden sind, seien es Sufis, Buddhisten oder andere. Natürlich stimmen sie nicht über die Art und Weise, wie man atmen muss, überein. Aber das ist eine andere Geschichte. Wir Tantriker haben eine andere Art zu atmen, die viel tiefer geht als die normale Atmung, nämlich bis zum Schambein, was es uns ermöglicht, die tiefer liegende Muskeln zu entspannen, die sich dann wie eine Welle bewegen. Es schafft ein Gewicht und eine Leichtigkeit zugleich. Das Interessante an dieser Praxis ist, dass man es immer mit Gegensätzen zu tun hat. Du hast Gewicht und bist fest verankert, und gleichzeitig kommunizierst du vollkommen mit dem Himmel. Du bist der Bindestrich. Du bist vollkommen in der Erde und du bist vollkommen im Himmel, weil du in der Erde bist. Die Tantriker haben immer mit den Gegensätzen gespielt. In den Tantras kommt es sehr häufig vor, dass es große Widersprüche gibt, d. h., dass man genau das Gegenteil dessen finden kann, was man gerade eine Seite zuvor gelesen hat. Man merkt es nicht immer sofort. Es ist eine didaktische Technik, damit diese ewigen Widersprüche aufhören.
Der leidenschaftliche Impuls an sich
Während es in den anderen Schulen die Leidenschaft ist, die einen leiden lässt, stellt der tantrische Weg die Leidenschaft des Seins an oberste Stelle.
Für uns kommt die Leidenschaft von dem weiträumigen Kern des Seins, vom Diamanten des Herzens. Es ist eine Energie, die aus diesem unendlichen Raum entspringt. Also verbindet sich der Tantriker, wenn er seiner Leidenschaft folgt, wieder mit seiner eigenen Quelle. Jeder leidenschaftliche Impuls bringt uns zu dem Raum, der ihn sozusagen kreiert hat. Es ist ein Kreis, der nie aufhört. Wenn wir natürlich der Leidenschaft begegnen, wie wir es gewohnt sind, ist es klar, dass sie in uns Leiden erzeugt. Aber die Tantriker haben nicht diese idealistische Neigung, das Leiden vollkommen zu beseitigen, und das ist einzigartig. Im Buddhismus z. B. gibt es die grundsätzliche Vorstellung, das Leiden vollständig umwandeln zu wollen. Wir finden dies unrealistisch, denn es ist fast unmöglich. Es gibt vielleicht eine Person von Hundert Millionen, die dies schafft. Also ist es von keinem Belang für die anderen. Deshalb akzeptieren wir es zu leiden. Nur fragen wir uns, ob es notwendig ist, drei Tage oder drei Jahre lang zu leiden. Wir versuchen, unser System so in Fluss zu bringen, damit wir nur noch sieben Sekunden leiden. Denn ehrlich, wenn man nur sieben Sekunden leiden muss, dann würde niemand gegen das Leiden sein. Ich finde es sehr schlau, denn bevor man sich an einen riesigen Berg heranmacht, akzeptiert man lieber, dass das Leiden Bestandteil des Lebens ist. Man versucht nur, dass das Leiden fließt und schnell seiner Wege geht.
Es gibt bei uns nie die Vorstellung, etwas zu meistern. Denn sobald man etwas meistern möchte, schafft es eine Art Anspannung, eine Art Abwehr. Denn es schafft zwangsläufig eine Angst vor allem, was dich aus der Ruhe bringen könnte. Es ist mir oft aufgefallen, dass Menschen, die lehren, eigentlich Angst vor dem Leben haben. Sie befinden sich in einer Art Sicherheit, die sie durch die Meditation erschaffen haben. Alles, was von außen kommt, macht ihnen also große Angst. Es mag für sie vielleicht ein angenehmer Zustand sein, aber für uns ist der Zustand, in dem es keine Angst mehr vor dem Leben gibt, viel wertvoller.
Bei uns geht es auch nicht darum, die negativen Dinge in positive zu verwandeln, weil wir denken, dass es künstlich ist. In vielen spirituellen Schulen wie z. B. im Buddhismus lehrt man die Gewalt in Mitgefühl zu verwandeln, was vielleicht eine sehr schöne Idee, aber sehr schwer zu verwirklichen ist. Ich mag diese realistische Seite der Tantriker sehr. Sie sagen: „Die Lösung deiner Gewalt liegt in deiner Gewalt.“ Sie liegt nicht in der Projektion, dass du jemand Gutes und Großzügiges bist, sondern die Idee ist, in Kommunikation mit dieser Gewalt zu treten, anstatt sie zu eliminieren, indem du versuchst, etwas zu projizieren, das in diesem Augenblick überhaupt nicht vorhanden ist. Das ist sehr interessant, weil man schließlich den Schlüssel der Problematik im Problem selbst findet. Es ist eine originelle Idee, denn dann können Gewalt, Eifersucht, Angst, Furcht genau so wie die angenehmen Gefühle und Emotionen zu Zugangswegen werden, was in der ältesten Yoga-Schrift Vijnanabhairava Tantra deutlich beschrieben wurde. Es gibt einen Zugang, der die Gesamtheit des Menschen berücksichtigt. Jedes dieser Dinge kann ein Tor zu diesem Raum sein, weil jedes Einzelne aus dem unendlichen Raum gekommen ist, auch unsere Angst, unsere Eifersucht kommen eigentlich aus unserem unendlichen Raum. Wenn man ihnen vollkommen folgt, kehren sie um. Dann ist es besser, sich ihrer zu bedienen, anstatt etwas Gegensätzliches zu projizieren, was veranlassen wird, dass unsere Gewalt stagnieren und im Körper bleiben wird, wahrend man in der Illusion lebt, voller Mitgefühl zu sein. Man sieht das Ergebnis in anderen spirituellen Zentren. Wenn dort Gewalt entsteht, ist es oft schlimmer als im wirklichen Leben. Jeder ist voller Liebe, aber wenn es auf einmal explodiert, entsteht daraus sehr schnell eine Gewalt, die man in der normalen Welt nicht vorfindet. Dies resultiert aus der so gewaltigen Unterdrückung der tiefen Emotionen, die man von Grund auf nicht unterdrücken kann.
Es geht nur um das Bewusstsein
Es ist eigentlich das Bewusstsein, das den ganzen Unterschied ausmacht. Man kann die Leidenschaften auf eine sehr destruktive Art und Weise leben, wenn man sie aber in dieser Gegenwärtigkeit lebt, dann lebt man die leidenschaftliche, spontane Seite des Lebens. Dies ist etwas grundsätzlich anderes.
Aus den Leidenschaften wird dann die Leidenschaft, d. h. ein einziger leidenschaftlicher Impuls. Der gesamte Yoga-Weg führt uns dorthin. Dies wurde von vielen Menschen falsch verstanden, die gedacht haben, dass Tantrismus ein leichter Weg ist, aber er ist in Wirklichkeit sehr schwierig…
… und sehr anspruchsvoll!
Es hat nichts mit der verrückten Vorstellung des sexuellen Tantrismus, wie er so oft im Westen praktiziert wird, zu tun. Tantra ist viel subtiler als das. Aber da die Tantriker die Sexualität von Anfang an nicht außerhalb des Yoga-Weges gestellt hatten, war es eine offene Tür für alle, die sich darauf stürzten und Tantra irrtümlicherweise mit Sexualität gleichsetzten. Im Vijnanabhairava Tantra, dem ältesten Text, der uns über das Yoga erhalten ist, gibt es 130 Praktiken, von denen nur drei die Sexualität betreffen. Der Rest befasst sich mit dem Bewusstsein.
Ich denke, dass diese Yoga-Form ideal ist für den Menschen des 21. Jahrhunderts. Wir brauchen mehr denn je eine Lehre, die uns in unserem tiefsten Inneren fühlen lässt, dass alles im Hier und Jetzt geschieht, und keine philosophischen Gebäude, die uns in die Zukunft projizieren.
Für uns ist die Präsenz in der Realität der direkteste und einfachste Weg. Außerdem ist im Tantra das Wort „tan“ enthalten, das ja Ganzheit bedeutet. Es geht also darum, dass man das Bewusstsein in die Gesamtheit des Lebens eindringen lässt, nicht nur in einen Teil. Es ist ein Yoga ohne Grenzen. Für uns gibt es die Vorstellung nicht, dass die Erleuchtung einen Endpunkt darstellt, sondern dass es etwas ist, das geschieht, und dann setzt sich die Arbeit bis zu Ende fort. Es gibt viele Menschen in den spirituellen Schulen, die denken, dass sie ab dem Tag, an dem sie erleuchtet sind, keine Probleme mehr haben werden. Das stimmt aber nicht. Wir haben nicht diese Vorstellung, dass man durch Erleuchtung Sicherheit erlangt.
Es ist sehr beruhigend, das zu hören, denn es gibt Zeiten, in denen man sich völlig verbunden fühlt und in anderen weniger…
Natürlich! Es war ein unglaublicher Mut seitens Lalita Devi, mir zu zeigen, dass sie in sich noch Anteile hatte, die nicht so klar waren. Für mich war es ein unglaubliches Geschenk, weil ich überhaupt nicht diese Vorstellung von Meistern hatte. Ich dachte, dass ein Meister eine Art vollkommene reine Essenz sein sollte, bei der es überhaupt keine Zwischenfälle in diesem Raum geben sollte.
In einem Wort: der perfekte Meister!
Die meisten Menschen haben diese Vorstellung des perfekten Meisters, daher entstehen die verrückten Zustände, in die die Schüler geraten, wenn sie feststellen, dass ihr Meister nicht perfekt ist, sie wollen ihn töten! Im tantrischen Weg findet man diese sehr menschliche Vorstellung, dass man – erleuchtet oder nicht – immer noch vor einem Menschen steht, der immer eine eigene Art hat zu funktionieren. Es gibt immer noch Spuren, alte Sachen, die nicht von einem anderen, sondern aus diesem Leben herrühren.
Und es reicht!
Ja, so wie es ist, gibt es schon genug zu tun. Im tantrischen Weg ist die Tatsache, sich zu zeigen, so wie man ist, Bestandteil der Lehre. Z. B. wenn ich lehre oder wenn ich mit einem Schüler spreche und Unklarheiten bzw. bestimme Emotionen in mir spüre, dann zeige ich es sofort. Ich finde, dass diese Lehre viel schöner ist, als sich eine Art abstrakte Vorstellung von Vollkommenheit zu schmieden. Die Schüler haben sowieso die Neigung, dich perfekt sehen zu wollen…
… dich auf einen Sockel zu stellen…
Genau. Wenn du sie also machen lässt, wirst du ganz schnell als ein Heiliger betrachtet. Ein tantrischer Meister befürchtet nicht, so gesehen zu werden, wie er ist, und seine Schwächen zu zeigen. Er hat keine Angst zu zeigen, dass es zwischen Meister und Schüler keinen grundsätzlichen Unterschied gibt. Es dauert nur weniger lang. Das ist alles. Einige Sekunden, manchmal ein bisschen mehr. Es gibt sehr wenig Menschen, die heute lehren, die wagen, es zu tun. Vor einigen Jahren hatte ich ein Projekt, von dem ich sicher war, dass es ein Bestseller werden würde. Ich wollte ein Buch über ein Dutzend Meister veröffentlichen, die nur über eine Sache sprechen würde: über die eigene Unklarheit. Ich dachte, dass so ein Inhalt fantastisch wäre. Das Ergebnis war aber außergewöhnlich: Ich habe mein Telefon genommen und angerufen. Sofort habe ich beim Gegenüber ein Unbehagen gespürt: „Ah gut, Daniel, normalerweise haben Sie gute Ideen, aber diesmal, ehrlich, scheint sie mir keine gute zu sein!“ Und nach einer Weile fragten sie mich: „Gut, und wer ist damit einverstanden, bei diesem Buch mitzumachen?“ In der Art: Wenn der Dalai Lama mitmacht, bin ich auch einverstanden, in deinem Buch zu erscheinen. Kein Einziger von den 10 Personen, die ich angerufen habe, hat mir gesagt: „Ich kann nicht mitmachen, weil ich keine Unklarheit in mir habe.“ Niemand. Es wäre die einzig mögliche Antwort. Also war es offensichtlich, dass alle noch Unklarheiten in sich hatten, aber niemand wagte es zu zeigen. Es sind also all diese Angeber, die so sehr die Dinge im spirituellen Bereich verfälschen. All diese Leute, die diesen Mythos der Perfektion nähren, weil es für sie gut ist. Das ist tragisch.
Die Macht der Frau
Ein anderer großer Unterschied zwischen dem tantrischen Yoga und den anderen Schulen ist die vordergründige Rolle der Frau. In unserem patriarchalen System, das seit Tausenden von Jahren herrscht, gibt es endlich eine Schule, die der Frau ihre königliche Rolle zurückgibt.
Es ist nicht so, dass man ihr ihre königliche Rolle zurückgibt, denn sie hat sie nie verloren! Es ist viel besser! Da es sich um Frauenlinien handelt, die sieben oder acht tausend Jahre alt sind, gab es keine Phase, in der plötzlich die Männer die Macht übernommen haben. Auch wenn es viele Männer gab, die in der tantrischen Tradition große Meister waren, haben sie nie die Frauen eliminiert. Im Gegenteil, sie haben sie immer geehrt, um Raum in ihre Lehre zu bringen, d. h. die Vorstellung, dass sich alles in Zyklen bewegt, dass sich alles wieder verbindet, dass alles rund ist. Daher die Sanftheit unseres Yogas, es gibt nie gewalttätige Übungen. Auch was den Atem betrifft, spannt man nie die Muskeln an. Bei uns gibt es nicht den Willen, etwas zu erzeugen, sondern etwas wahrzunehmen. Alles ist äußerst weiblich.
In unserem Yoga haben wir immer Frauen als Personen betrachtet, die tiefere und direktere Fähigkeiten haben als die Männer. Übrigens sagen die Tantriker, dass es für die Männer ideal wäre, eine energetische Frau zu werden. Also auch was die Praxis betrifft, versucht man den Männern z. B. die Sinnlichkeit spüren zu lassen, wie sie im gesamten Körper zu finden ist, und nicht nur fokussiert auf den Sex. Durch den Tandava-Tanz, durch die Massagen können Männer endlich verstehen, wie eine Frau funktioniert, weil sie ein bisschen weniger auf ihre Sexualorgane zentriert sind und anfangen, in ihrem ganzen Körper lebendig zu werden. Es geht immer um diese globale Vorstellung der Rundheit. Man sagt auch, dass die Fokussierung des Tantrismus, die eher auf der Realität als auf illusorischen Konzepten basiert, zum Teil aus einer weiblichen Vision des Lebens resultiert. In den meisten Religionen gibt es diese unglaubliche Vorstellung, was die Frauen betrifft, wenn sie ihre Mensis haben!
Ah, die berühmte Unreinheit der Frau!…
Reinheit, Unreinheit, das sind Wörter, die in den Tantras nicht existieren. Das Leben ist rein und unrein, es ist eine Mischung. Es gibt nie die Vorstellung, sich zu reinigen, nie die Vorstellung von Schmutz, sondern im Gegenteil: die Vorstellung eines unendlichen, leuchtenden Raums, der angeboren ist. In den Tantras wird gesagt, dass eine Frau, die ihre Tage hat, sich auf der Höhe ihrer energetischen Kraft befindet. Damals, wenn ein Meister lehrte und seine Schülerin ihre Tage hatte, bat er sie darum, sich an seine rechte Seite zu setzen, um sie vor allen anderen Schülern zu ehren, weil sie die Kraft der Shakti darstellte. Sie nahm sogar ein bisschen von ihrem Blut, um einen roten Punkt auf die Stirn der anderen Schüler zu malen – etwas, das bei den Hindus absolut undenkbar wäre. Die Yogini haben auch die Gewohnheit, während der Mensis Sex zu haben. Sie haben kein Sex in der übrigen Zeit. Das alles ist auf dem Gebiet der Spiritualität sehr erstaunlich, auf dem es so viele Tabus gibt. Es besteht also wirklich eine Anerkennung des Weiblichen, der weiblichen Energie.
Abgesehen davon gibt es die Vorstellung, dass Yoga uns in die Richtung von etwas Androgynem führt. Man erreicht einen Zustand, in dem das Weibliche und das Männliche sich in perfekter Harmonie befinden. Dann definiert man sich nicht mehr als Mann oder Frau, sondern man ist ganz. Übrigens gab es früher, oder vielleicht heute noch, tantrische Männer, die sich Kleider des anderen Geschlechts anzogen, also Männer, die Kleider von Frauen trugen, und Frauen, die Kleider von Männern trugen, um nach außen zu zeigen, dass sie die Ganzheit erreicht haben.
Die Frau stellt die Macht dar, was definiert nun den Mann?
Das ist eine Frage in einem Tantra: „Was ist die Männlichkeit?“ Und die Antwort von Shakti ist: „Die Männlichkeit ist die Fähigkeit, sich zu wundern“, was eine ungewöhnliche Definition fürs Männliche ist, denn wenn man eine Untersuchung machen und tausend Menschen fragen würde, was Männlichkeit sei, würde niemand antworten, dass es die Fähigkeit des Sich-Wunderns ist. Man erkennt also beim Mann eine kindliche Fähigkeit, sich zu wundern.
Yoga ist nur eine Frage des Bewusstseins
Das ist es, was passiert, wenn man in der Präsenz ist: Man wird wieder zum Kind, das sich über alles wundert. Diese Yoga-Form ist wirklich sehr subtil, weil sie gleichzeitig eine Praxis und eine Nicht-Praxis ist. Dies ist der Punkt, der schwierig ist, zu verstehen.
Es besteht eine unglaubliche Freiheit, eine Abwesenheit von Regeln, ein unendlicher Raum, und gleichzeitig gibt es eine Disziplin. Eigentlich geht es um nichts anderes, als bewusst zu sein. Ab dem Augenblick, in dem du bewusst bist, wirken alle Befehle und Ethik begrenzend. Das ist auch etwas, was an der tantrischen Tradition oft falsch verstanden wird. Die Leute sagen, es gibt keine Moral, keine Regeln, also ist es ein völlig anarchistischer Weg, nur Hedonismus, also nur die Suche nach dem Vergnügen. Aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Im Gegenteil: Weil das Bewusstsein das Zentrum der Lehre ist, gibt es keine Regeln. Ohne Bewusstsein kann eine Schulung keine Früchte bringen.
Man kommt immer zu dem gleichen Schluss: Es ist das Bewusstsein, das den ganzen Unterschied ausmacht.
Es gibt nur das. Yoga ist nur ein Frage des Bewussteins.
Daniel Odier, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Das Interview wurde von Anne Devillard, seit 1989 Chefredakteurin der Monatszeitschrift NATUR & HEILEN und Moderatorin auf internationalen Kongressen über Humanistische Medizin, Wissenschaft und Spiritualität, in Paris geführt.
Literaturempfehlungen:
Von Daniel Odier in deutscher Sprache bereits erschienen:
- Tantra Yoga, der Weg zur höchsten Erleuchtung. Diederichs Gelbe Reihe.
- Tantra – Eintauchen in die absolute Liebe. Aquamarin Verlag.
- Begierde, Leidenschaft und Spiritualität. Innenwelt Verlag.
- Die Ekstase des Herzens. Der tantrische Weg zum Erwachen. Aquamarin Verlag.
- Lalla – die Glutvolle. Mystik in Wort und Bild. Tabula Smaragdina Verlag.
Mehr über Daniel Odier findet Ihr hier: www.danielodier.com